20. März 2013
Michael Helmbrecht, Vorsitzender der Allianz gegen Rechtsextremismus in der Metropolregion Nürnberg, sprach anläßlich der Einweihung des Gedenkorts für die Mordopfer des NSU zu den Angehörigen der Opfer. Er sprach aber auch den bayerischen Innenminister und die Vertreter von Polizei und Sicherheitsbehörden an und wandte sich an die Öffentlichkeit.
Vier Ginkobäume und eine Stele mit den Namen der der zehn Ermordeten und einer Verurteilung der menschenverachtenden Taten der Neonazi‐Verbrecher in der unmittelbaren Nähe zu den Säulen der Menschenrechte bilden den neuen Gedenkort in Nürnberg, der Stadt der Menschenrechte – als Mahnung an uns alle.
Sehr geehrte Familie Simsek, Sehr geehrte Familie Özüdogru, Sehr geehrte Familie Yasar, sehr geehrte Angehörige der Opfer der Neonazi-Verbrecher,im Namen der Allianz gegen Rechtsextremismus in der Metropolregion Nürnberg möchte ich mein Wort zunächst an Sie richten. Wir können nicht im Entferntesten ermessen, welche Qualen sie durchlitten haben in den letzten Jahren – durch den Mord an ihren Ehemännern, Vätern, Brüdern, Onkeln und nächsten Angehörigen. Durch die schreckliche Erfahrung, in ihrer Trauer der Mittäterschaft bezichtigt und befürchten zu müssen, ihrer Ehre beraubt zu werden. Durch den gnadenlosen Umstand, dass die Mordtaten, die ihnen so viel Leid gebracht haben, so lange nicht aufgeklärt worden sind. In meiner, in unserer Hilflosigkeit können wir Ihnen nur unsere tiefe Anteilnahme versichern. Wir sind bestürzt darüber, was neonazistische Verbrecher und sich irrende Behörden Ihnen angetan haben.
Vielleicht ist es unangebracht und sehr vermessen von mir, Sie zu bitten, nicht zu verbittern und zu sehen, dass am Internationalen Tag der Menschenrechte vorletzten Jahres, kurz nach dem Offenbarwerden der Täter, viele Tausend Menschen hier im Nürnberger Raum an den Trauerfeiern zum Gedenken an die ermordeten 10 Mitbürger teilgenommen haben. Vielleicht ist es nach dieser Zeit, die Sie durchleiden mussten, menschenunmöglich zu glauben, dass Millionen Menschen, die überwiegende Mehrheit der Menschen in diesem Land gerne in einer bunten, multikulturellen, friedlichen Gesellschaft lebt. Dass Hunderte von Initiativen sich engagiert und unablässig Naziaufmärschen in den Weg stellen, dass die Qualitäts‐Medien sehr kritisch die Aufklärung der Mordtaten betreiben und kritisch begleiten.
Vielleicht ist der Blick auf die zivilen Seiten dieses Landes nach diesen schrecklichen Erfahrungen nicht mehr möglich und kann auch keinen Trost spenden. Aber lassen Sie mich Ihnen im Namen der Allianz gegen Rechtsextremismus, in der über 130 Städte und 120 Initiativen in der Metropolregion sich zusammengeschlossen haben, versichern, dass wir unser Mögliches tun werden, dass hier in unserer gemeinsamen Heimat Menschen wegen ihrer Herkunft, wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Religion oder anderer Eigenschaften nicht als Menschen zweiter Klasse behandelt und nie mehr aus der Menschheitsfamilie ausgeschlossen werden. Wir sind sehr entschlossen, jenen lebensgefährlichen Kulturen der rassistischen Verachtung von Minderheiten, die sich in Deutschland und Europa einzunisten versuchen, entgegenzutreten.
Sehr geehrter Herr Staatsminister, sehr geehrte Vertreter der Polizei und der Verfassungsschutzbehörden,
im Namen der Allianz gegen Rechtsextremismus möchte ich Ihnen sagen, dass wir durchaus glauben, dass sehr wohl sehr eifrig in den Mordfällen ermittelt wurde. Aber es offenkundig ist, dass der Eifer nicht zu den richtigen Ergebnissen führen konnte, weil er auf falschen Voraussetzungen aufsaß: Erstens der unfassbaren Banalisierung der Gefährlichkeit der rechtsextremistischen Szene bis hin zur Protektion von rechtsextremistischen Strukturen durch die staatlich alimentierten V‐Leute. Zweitens der Bereitschaft zur Stigmatisierung und Kriminalisierung von Migranten‐Milieus. Diese beiden Fehler zusammengenommen erklären erst das Desaster der Ermittlungen. Diese Erkenntnis wäre ein zwingender Grund zur Selbstreflexion, zur Fehlersuche und für die Frage: Was stimmt in unseren Strukturen nicht, was stimmt an unseren Mentalitäten nicht? Stattdessen hören wir, dass Akten verschwanden, geschwiegen, vernebelt, geschwärzt und vergessen wurde. Wenn Sie das Vertrauen in die Behörden wieder herstellen wollen, dann klären Sie selbstkritisch und entschieden den Geist und die Strukturen auf, die der Nährboden dieser Irrtümer waren und sind. Lassen Sie uns wissen, warum die NSU‐Verbrecher gerade Nürnberg als Zielort und Nürnberger Bürger als Zielschiebe wählten und was die regionale, hochaktive Neonazi‐Szene damit zu tun hat. Und mit Blick auf die anstehenden Wahlkämpfe bitten wir Sie: Ermahnen Sie Ihre Kollegen in den Parlamenten und die Partner in den Vorstandsetagen unserer Gesellschaft zur Besonnenheit, wenn sie mit Blick auf Wählerstimmen den Rechtspopulisten das Wort reden und sehr missverständlich etwa vom Tod des Multikulturalismus schwadronieren.
Sehr geehrte Damen und Herren,
es gab ja Debatten im Vorfeld, ob der Nürnberger Weg des Gedenkens geeignet sei, den schrecklichen Ereignissen und der Trauer der Betroffenen Rechnung zu tragen. Ich glaube, das kann keine Gedenkstätte – in welcher Form auch immer – leisten. Mit Gedenkstätten sollen nicht Steine, sondern die Köpfe und Herzen der Besucher und Vorübergehenden bewegt werden. Und das kann mit diesem Ensemble, den vier Gingko‐Bäumen, der Stele mit den Namen der zehn Ermordeten und einer Verurteilung der menschenverachtenden Taten der Neonazi‐Verbrecher in der unmittelbaren Nähe zu den Säulen der Menschenrechte geschehen. Es entstand aus unserer Sicht ein würdiger und symbolträchtiger Mahn‐ und Gedenkort. Mit ihrem eigentümlichen, zweigeteilten Blatt symbolisieren die Gingko‐Bäume nicht die Dualität, das Neben‐ oder Gegeneinander, sondern die Polarität, die Einheit in der Verschiedenheit. Das ist ein gutes Symbol für jene Welt, für die wir einstehen: Eine plurale Gesellschaft, die zusammengehalten wird von unserem Willen, das Zusammenleben und die Konfliktaustragung friedlich, respektvoll und im Geiste der Menschenrechte zu gestalten. Wir sind in mancher Hinsicht vielleicht unterschiedlich, aber wir sind gleich mit Blick auf unsere elementaren Bedürfnisse: Kein Mensch will erniedrigt, gefoltert, getötet werden. Wir alle haben ein Bedürfnis nach Freiheit und nach unserer Anerkennung als vollwertige Mitglieder einer Gemeinschaft, ein Bedürfnis nach Respektierung unserer Glaubensüberzeugungen, ein Bedürfnis nach einem Leben ohne Furcht und Not. Die Menschenrechte formulieren die Anrechte zur Verwirklichung dieser Bedürfnisse, die uns allen gemeinsam sind, Bedürfnisse, die uns als Menschen ausmachen. Dieser Einheit in der Verschiedenheit müssen wir uns gerade in konflikthaften Auseinandersetzungen immer wieder inne werden.
Im Vergleich mit den unverrückbaren Säulen der Menschenrechte erscheinen die Gingko‐Bäume zart und schutzlos. Ihre Verletzbarkeit steht in einer deutlichen Spannung zu den Säulen. Sie kann uns lehren: Menschen jedweder Herkunft sind sich gleich in dieser Verletzbarkeit. Wir alle können zutiefst verletzt werden – körperlich, seelisch und moralisch. Und gerade weil wir als Menschen so verletzbar sind, deshalb brauchen wir alle den Schutz der Menschenrechte.
Lassen Sie uns achten auf die Gingko‐Bäume. Lassen Sie uns achtsam sein im täglichen Umgang miteinander. Die Gingko‐Bäume können sehr alt werden und sie bilden mächtige Kronen aus. In nicht allzu ferner Zeit können sich Menschen unter ihnen niederlassen. Vielleicht stellt sich im Schatten, den sie unseren Ururenkeln noch spenden werden, die Frage: „Was war das nur für eine Zeit, in der Menschen dafür verdächtigt, beleidigt, ausgegrenzt, verachtet und getötet wurden, dass sie andernorts geboren wurden, eine andere Hautfarbe, eine andere Religion hatten?“ Für diese zukünftige Welt, der unsere gegenwärtigen Verhältnisse so fremd sind, weil Achtung, Respekt und Frieden in ihr herrschen, kämpfen wir. Den Feinden der Menschenrechte treten wir entschlossen entgegen. Und wir sind viele.